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Emotionale Dysregulation - DAS unterschätzte ADHS Symptom

Ein ungewollt kritischer Blick oder ein Wort zu viel bzw. zu wenig, kann leicht dazu führen, dass die Innenwelt eines ADHS-Menschen außer Kontrolle gerät.


Zumindest für eine gewisse Zeit, das dafür oft mehrmals am Tag.


Von einer Sekunde auf die andere, kann eine Welle an Emotionen die Innenwelt eines ADHS-Menschen überfluten. Souveräne Kommunikation und/oder konzentriertes Arbeiten sind dann erstmal nicht möglich. Und ja, auch klares Denken funktioniert in dieser Situation noch weniger. Aaarrrrrg!!! ADHS-Mensch mit ausgeprägter emotionaler Dysregulation zu sein, bedeutet ein Leben in ständigem Aufruhr zu führen.


Im Kontext AD(H)S bei Erwachsenen wird gern über Organisations- & Motivationsschwäche, sowie mangelnde Konzentrationsfähigkeit gesprochen.


Dabei ist das menschliche Gehirn nicht nur für`s Denken und Planen verantwortlich, sondern auch für die Emotionssteuerung. Die Tatsache, dass Menschen mit AD(H)S so gut wie permanent, ein hohes Maß an emotionaler Aktivität in sich spüren und welche Auswirkungen dieser Zustand im Alltag hat, wird leider noch zu wenig beachtet.

#1: Warum ist dieses Thema so wichtig?

In persönlichen Gesprächen und Kontakt mit ADHS Betroffenen zeigt sich mir immer wieder, dass die emotionale Dysregulation und ihre Auswirkungen, einen großen Teil des Leidensdruck verursachen.


Es beeinflusst das Erleben am Arbeitsplatz, in Beziehungen und der Familie. Oftmals wissen ADHS-Betroffene gar nicht, dass es dieses Symptom überhaupt gibt und erklären sich die dadurch auftretenden Probleme als persönliche Schwäche oder Charakterfehler. Darunter leidet er Selbstwert der betroffenen Person stark und u.a. sozialer Rückzug, Ängste und "people pleasing" (überhöhte Anpassungsleistung) werden begünstigt.


Bislang gibt es leider noch wenige Informationen und Forschung (europäische & deutsche Forschung) zu emotionaler Dysregulation in Verbindung mit ADHS.


Erst seit Kurzem wird der hohe Einfluss der emotionalen Dysregulation auf die weiteren ADHS-Symptome wie u.a. Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit und Verhaltenssteuerung anerkannt und untersucht. Zum Beispiel mit Hilfe der 2. Auflage der Wender-Reimherr-Selbstbeurteilungsfragebogen. Das Spektrum der angesprochenen Symptomatik wurde darin erweitert und erfasst nicht nur die klassische Trias mit Impulsivität, Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität, sondern schließt Phänomene der emotionalen Dysregulation, Desorganisation und Störungen des Sozialverhaltens nun mit ein. (Quelle: ADHS im Erwachsenenalter (hogrefe.com) )


Eine isländischen Studie über ADHS-Symptome bei Universitätsstudenten geht dabei noch einen Schritt weiter und zeigt, dass es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen mit ADHS gibt. Denn sie sagt aus, dass ein schlechteres Sozialverhalten zu Unzufriedenheit im Leben von Männern führt, während bei Frauen die schlechte emotionale Kontrolle eine Belastung darstellt. Darin fließt auch ein, dass die (traditionellen) sozialen Rollen der Geschlechter bestimmen, welche Emotionen Frauen und Männer (haben) und zeigen “dürfen”. Frauen können eher v. a. positive und »machtlose« Emotionen zeigen, während Männer prinzipiell machtbezogene und v. a. weniger Emotionen zeigen sollen.


Im therapeutischen Kontext wird die emotionale Dysregulation leider auch noch zu selten der ADHS-Symptomatik zugeordnet und dies kann zu Fehldiagnosen führen.

All das sind Gründe genug, sich intensiver damit zu beschäftigen.....

Um das Konzept emotionale Dysregulation besser begreifen zu können, möchte ich hier versuchen Fragen zu beantworten:

#3: Was ist Emotionsregulation und wann ist sie dysfunktional?

#4: Wie fühlt sich emotionale Dysregulation für ADHS-Menschen an?

#5: Neurobiologische Grundlage der Emotionsregulation.

#6: Abgrenzung zu anderen Zuständen.

#2: Was sind Emotionen?

"Gefühle, also das, was wir bewusst als Angst, Freude, Wut oder Trauer erleben und als Kloss im Hals oder Ziehen in der Magengegend spüren können, ist nur ein kleiner Teil unserer inneren Wahrnehmung. Ein bloßes Gefühl lässt uns noch nicht reagieren. Dafür braucht es etwas Intensiveres, die Emotionen.


Denn Emotionen betreffen nicht nur das subjektive Erleben des Fühlens, sondern umfassen auch körperliche Reaktionen auf bestimmte Auslöser, die den Menschen auf ein Verhalten vorbereiten und ihn zum Handeln bewegen sollen. Eine Emotion ist also etwas sehr Weitreichendes, Umfassendes. Sie fokussiert unsere Aufmerksamkeit, beeinflusst unser Denkvermögen und unsere Selbsteinschätzung – das heißt unsere kognitiven Prozesse. Sie schlägt sich in Körperfunktionen wie Herzfrequenz, Blutdruck und Schwitzen nieder, die vom vegetativen (=autonomen) Nervensystem gesteuert werden.

Das schafft die Voraussetzungen für zwei Handlungsoptionen:

Kampf oder Flucht." -> Stressreaktion (Aktivierung den Zentralen Nervensystems – den Sympatikus) (Quelle: Was ist Emotion? Von Mimik bis Hormon (dasgehirn.info)

Emotionen sind ein mächtiges System zur zügigen Bewertung von Situationen und Initiierung von Handlungen.

# 3: Was ist Emotionsregulation und wann ist sie dysregulativ?

Emotionsregulation beschreibt den Prozess, durch den Menschen das Erleben, die Intensität, die Dauer, den Zeitpunkt und den Ausdruck von aktivierten Emotionen beeinflussen (Gross, 2007). Durch Emotionsregulation können positive und negative Emotionen verstärkt, aufrechterhalten oder abgeschwächt werden. Emotionsregulation kann somit als eine Sammlung von kognitiven und verhaltensbasierten Strategien zur Beseitigung, Aufrechterhaltung und Veränderung von emotionalem Erleben, dessen Intensität und Ausdruck aufgefasst werden. Diese Prozesse können bewusst oder automatisch ablaufen. Quelle: Emotionsregulation – Dorsch - Lexikon der Psychologie (hogrefe.com)


Emotionale Dysregulation kann man demnach als mangelhafte Anwendung funktionaler Emotionsregulationsstrategien bei gleichzeitigem Einsatz abweichender (d. h. dysfunktionaler) kognitiver, wie verhaltensbezogener Regulationsstrategien verstanden werden. Der Begriff umfasst eine Unterregulation von Emotionen (z. B. von Wut im Falle aggressiven Verhaltens, aber auch euphorische Freude z.B. vor Freude weinen) sowie eine übermäßige Kontrolle emotionaler Erfahrungen (z. B. Situationsvermeidung, persönliche Überanpassung). (Quelle: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/emotionsdysregulation )

# 4: Wie fühlt sich emotionale Dysregulation für ADHS Menschen an?


Eine Ausprägung der emotionalen Dysregulation, im Kontext ADHS, wird in der amerikanischen ADHD Community als RSD (rejection sensitive dysphoria) bezeichnet.

Angst vor Zurückweisung und Empfindlichkeit gegenüber Kritik ist die geläufigste Übersetzung für RSD. Sie beschreibt im Kern, dass Menschen mit ADHS Kritik und Zurückweisung fürchten, da dadurch starke Emotionen in ihnen ausgelöst werden, welche als schwer zu ertragen, bis hin zu schmerzhaft, empfunden werden. (Quelle: Rejection Sensitive Dysphoria: Emotional Pain of Criticism (additudemag.com)


Wobei das Gefühl der Ablehnung als Reaktion auf eine Situation, nicht unbedingt falsch interpretiert sein muss. Es ist die Intensität, die Menge an Gefühl und Emotion, welche nicht der Situation entsprechend ausgelöst wird. Mit anderen Worten, die Wahrnehmung von ADHS-Menschen ist i.d.R. richtig und total normal, nur die Intensität der hervorgerufenen Emotionen ist der Situation nicht angepasst.


Eine Situation, welche bei einem neurotypischen Menschen den emotionalen Schmerz eines Mückenstichs auslöst, kann sich für einen Menschen mit ADHS so anfühlen, als würde ihm gerade ein Elefant auf den Fuß treten.


Um bei dem Beispiel zu bleiben, hat der neurotypische Mensch im besten Fall einen "emotionalen Insektenstift" (automatisch, durchgeführte Emotionsregulation) dabei, den er verwendet und das eben Passierte ganz schnell nicht mehr juckt ;)


Dies funktioniert bei Menschen mit ADHS leider nicht so. Nicht nur, dass ADHS-Menschen aufgrund der emotionalen Dysregulation ein intensiveres emotionales Erleben haben, es fällt ihnen auch schwerer die Situation aus ihrer Gedankenwelt zu entfernen. Oftmals wird noch Stunden, Tage ... über diese Situationen nachgegrübelt. ADHS-Menschen brauchen deutlich länger, um sich von einer emotionalen Überflutung zu erholen. Was eine ernstzunehmende zusätzliche Belastung darstellt, da dadurch ihr Nervensystem in ständiger Alarmbereitschaft, in einem Stresszustand bleibt.


Hinzu kommt, dass man als ADHS Mensch im Laufe des Lebens deutlich mehr Ablehnung, Kritik und Korrekturhinweise erhält als ein neurotypischer Mensch. So entwickeln ADHS-Menschen sehr oft eine innere Haltung der Ablehnungserwartung. Das bedeutet, dass in sozialen Interaktionen ein negatives Feedback von vornherein erwartet wird und es zur sogenannten "Selbsterfüllenden Prophezeiung"* kommt. *selbsterfüllende Prophezeiung – Dorsch - Lexikon der Psychologie (hogrefe.com)

# 5: Neurobiologische Grundlage der Emotionsregulation:

Emotionsregulation wird einer verstärkten Aktivität im präfrontalen Kortex (PFK) zugeschrieben. Dabei übt der PFK einen regulierenden Einfluss auf die Amygdala (Teil des limbischen System im Gehirn, welches für emotionales Erleben zuständig ist) aus. Hat nun ein Mensch das Ziel, die Intensität der Emotion zu reduzieren kommt es zu einer Steigerung der Aktivierung im PFK bei gleichzeitiger Verringerung der Reaktion in der Amygdala. Der PFK ist bei allen exekutiven Funktionen und Arbeitsgedächtnisprozessen beteiligt. Wie bei der kognitiven Neubewertung und vor allem bei der Auswahl zielführender Strategien und Stimulus-angemessener Reaktionen, sowie an der Hemmung unangemessener emotionalen Reaktionen. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/emotionsregulation-neurobiologische-grundlagen

Die exekutive Funktion funktioniert bei ADHS-Menschen anders, eben nicht automatisch regulierend.

Auch die eher unausgeglichene Neurochemie bei ADHS-Menschen spielt bei der Angst vor Zurückweisung eine Rolle. Denn bei der Angst vor Zurückweisung wird spezifisch das Zugehörigkeitsmotiv angesprochen und


dieses ist dopaminerg gesteuert. "Da AD(H)S von einem Dopaminmangel im PFK sowie im Striatum, dem Belohnungs- und Verstärkungszentrum des Gehirns, gekennzeichnet ist, erscheint es unter diesem Aspekt plausibel, dass AD(H)S-Betroffene für eine Angst vor Zurückweisung und Kritik besonders empfänglich sind." Rejection Sensitivity: Kränkbarkeit, Angst vor Zurückweisung als spezifisches AD(H)S-Symptom - adxs.org Man kann also festhalten, dass je stärker die ADHS ausgeprägt (also je weniger gut die exekutive Funktion ausgebildet ist)(und je höher die Aktivität des ZNS ist) ist, desto schneller erfolgt eine Umschaltung aufs limbische System (Emotionszentrum) und desto schneller werden Informationen als drohende Gefahr interpretiert. Der ADHSler befindet sich unbewusst in größter Unsicherheit und daraus resultiert seine Fehlanpassung. Quelle: ADHS-Deutschland - Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom: ADHS – die Einsamkeit in unserer Mitte

# 6: Abgrenzung zu anderen Zuständen


Wie kann man die emotionale Dysregulation von einer Affektiven Störung unterscheiden?


Bei den affektiven Erkrankungen besteht die Hauptsymptomatik in einer Veränderung der Stimmung oder der Affektivität (Grundstimmung). Veränderungen der Stimmung werden meist von Veränderungen des allgemeinen Aktivitätsniveaus im Sinne einer Reduktion oder einer Zunahme der Aktivität begleitet. Affektive Störungen neigen dazu, rezidivierend aufzutreten, also mit einer Abfolge von Phasen zwischen z.B. depressiven und manischen Episoden. Quelle: Affektive Störungen - Enzyklopädie der Schlafmedizin - eMedpedia (springermedizin.de)

Affektive Störung

​ADHS - emotionale Dysregulation / RSD

die Stimmung ändert sich aus heiterem Himmel, es ist kein Auslöser erkennbar

es gibt einen erkennbaren, benennbaren Auslöser

die Stimmung ändert sich unabhängig davon, was im Leben der Person passiert

die Emotion stimmt mit der wahrgenommenen Situation überein

die Stimmung wechselt episodisch, über i.d.R. Wochen

die emotionalen Episoden tauchen in der unmittelbaren Situation auf und dauern i.d.R. nicht länger als ein paar Stunden


Wie kann man Persönlichkeit und Temperament von emotionaler Dysregulation unterscheiden?

Persönlichkeit und Temperament

ADHS - emotionale Dysregulation / RSD

kein Leidensdruck

Leidensdruck

beabsichtigter Ausdruck der eigenen Emotionen "Ich zeige bewusst, dass ich sauer/wütend... bin"

die entstehende emotionale Reaktion ist nicht beabsichtigt

"mir sind die möglichen Konsequenzen meines emotionalen Ausdrucks bewusst"

Das Gefühl, keine Kontrolle über die eigenen Emotionen zu haben, auch in Situationen, in denen kognitiv verstanden wird, dass es "keinen Grund" für so viel Emotionalität gibt.

Häufigkeit: unregelmäßig , nur bei bestimmten Themen

Häufigkeit: regelmäßig, das Gefühl ständig angegriffen und abgelehnt zu werden


Wie kann man emotionale Dysregulation von einer Traumareaktion unterscheiden?

Hier ist die Abgrenzung besonders schwierig! Denn das Eine schließt das Andere nicht aus, viele ADHS-Menschen haben traumatische Erlebnisse in Leben erfahren, welche sie aufgrund der emotionalen Dysregulation noch intensiver erlebt haben und schlechter verarbeiten konnten. Bitte beachte deshalb, dass die folgende Übersicht nur mein vorsichtiger Versuch ist, die beiden zu differenzieren.

Traumareaktion

ADHS - emotionale Dysregulation / RSD

ganz spezifischer, externer Trigger - Lässt sich therapeutisch auf konkrete Ursachen zurückführen

unspezifischer Auslöser, bzw. mehrere unterschiedliche Auslöser


# 7: persönliche Anmerkung


Mit diesem Beitrag möchte ich gern mehr Aufmerksamkeit für das ADH-Symptom "emotionale Dysregulation" schaffen. Vor allem bei Betroffenen, denn Du hast vermutlich ganz oft das Gefühl, dass dir viele Menschen etwas "Böses" wollen oder sich dir gegenüber unfair verhalten. Zu erkennen, dass es ein ADHS-Symptom ist, welches diese Menge und Intensität an Emotionen und Ängste in dir entstehen lässt, kann schon sehr entlastend wirken.


Im kommenden Blogbeitrag werde ich Dir, für einen besseren Umgang mit emotionaler Dysregulation, Tipps und Strategien an die Hand geben. Trage Dich in den Newsletter ein und werde sofort informiert, sobald der Artikel veröffentlich wird :)




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